Mittwoch, 28. April 2021

Komm mir nicht zu nahe!

Vor vieieieielen Jahren, als ich die Lehrerausbildung machte, sprach ein Dozent von Proxemik. Wisst ihr, was das ist? Laut dem Soziologen Edward Hall ist das das Verhältnis zwischen der Nähe zu den Mitmenschen und unserem Wohlbefinden. Wie sehr kann sich ein anderer Mensch uns nähern, bevor wir zurückweichen? Wie groß ist unsere physische Intimsphäre? Es gibt sogar Tabellen, in denen die genauen Abmessungen stehen, die in unterschiedlichen Kulturen die intime Distanz, die persönliche Distanz, die soziale Distanz und die öffentliche Distanz voneinander abgrenzen.


Der Dozent bezog sich damals natürlich hauptsächlich auf das Unterrichtsgeschehen:

Im Frontalunterricht befindet sich der Lehrer weit entfernt von den Schülern, er hat den Überblick über die Gruppe, aber keinen persönlichen Kontakt zum einzelnen Schüler. Bei Gruppenarbeit rücken die Schüler näher zueinander und positionieren sich den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber , das fördert den sozialen Austausch. Persönliche Erklärungen werden in maximal 60 cm Entfernung vollzogen und manchmal sogar durch Körperkontakt, wie Schulterdruck unterstützt.

Wir mussten damals im Unterricht selbst auch ausprobieren, wie sich die Kommunikationsbereitschaft und die persönliche Nähe erlebt, je nachdem ob man sich im Klassenzimmer hinter einem Tisch verstecken kann oder in einem Sitzkreis ohne Schutzschild allen anderen gegenüber sitzt. Interessant!


Dieses Gefühl der räumlichen Positionierung, je nach enge der Beziehung ist auch interkulturell unterschiedlich.

Ich habe es einige Jahre später am eigenen Leib erfahren, als ich in einem fremden Land Teamteaching machen durfte. Ich nähere mich einem Schüler, dem ein Fragezeichen auf der Stirn geschrieben steht, beuge mich zu ihm runter und frage: “Verstehst du die Aufgabenstellung? Soll ich dir helfen?” Panik im Gesichtsausdruck, er weicht auffällig zurück und sagt:”He, komm mir nicht so nahe!” Upps, damit hatte ich nicht gerechnet, obwohl mir doch damals in der Ausbildung der Dozent davon berichtet hatte.


Das Empfinden und die Positionierung finden unbewusst statt (Es sei denn natürlich man hat im Lehrerseminar einen coolen Dozenten, der uns in Versuchskarnickel verwandelt.) Raum, Ausstattung und Kultur können das Empfinden zwar beeinflussen, aber ein Grundprinzip dabei ist immer, dass die Entfernung sich verkürzt insofern die emotionale Nähe wächst.


Warum bringe ich das aber heute in meinem Blog ins Spiel?


Weil ich gerade jetzt erlebe, dass die Schüler sich im virtuellen Unterricht am Bildschirm schwer tun, die Kamera einzuschalten, sich zu melden, zu fragen und ihre Meinung zu äußern. Die mündliche Kompetenz ist beim Fernunterricht am meisten beeinträchtigt. Die Lehrer haben mehr Mühe denn je, die mündliche Kommunikation mit ihren Schülern aufrecht zu erhalten.

                                            


Und ich frage mich: Liefert Halls Proxemik-Theorie eine Erklärung dafür? Ist der Computer ein Schirm, hinter dem sich der Schüler versteckt, um seine Intimsphäre zu schützen? Ist der Computer eine Mauer, die der emotionalen Nähe und der entsprechenden Kommunikationsbereitschaft im Wege steht?

Ich weiß es nicht ...


https://gedankenwelt.de/proxemik-wie-wir-im-raum-kommunizieren/


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen